Auf dem Weg zum Service-Champion

07.02.2021

 

Kennen Sie den Film „The Wolf of Wall Street“? In einer Szene schließt Jordan Belfort, großartig dargestellt von Leonardo DiCaprio, am Telefon einen Deal mit einem Kleinanleger ab, nachdem er diesen nach allen Regeln des professionellen Hardselling belagert hat. Dabei zeigt er ihm - für den Kunden natürlich nicht sichtbar aufgrund des Telefons als Vertriebsweg - den Mittelfinger. 

Marketing bedeutet »win-win«

Es ist zu befürchten, dass eine solche Attitüde auch heute noch bei so manchem Unternehmen existiert. Bedauerlicherweise kaschiert man das dann mit Hochglanzbroschüren, Flyer und großformatigen Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften und nennt es dann Marketing. Aber: mit echtem Marketing hat das ganz und gar nichts zu tun! Die Zeiten, in denen Kunden „Moments of Pain“ - Warteschleifen in Hotlines, unfreundliches Service-Personal, komplizierte Produkte - akzeptieren, sind längst vorüber.

Genau genommen entspricht die Kernidee des Marketing als betriebswirtschaftliche Disziplin einem ethischen und sozialen Gedanken. Es geht darum, Kunden in den Mittelpunkt zu stellen und deren Nutzen und ihre Zufriedenheit zu maximieren. Wenn dies gelingt - so die Theorie - stellt sich der ökonomische Gewinn der Unternehmen quasi von allein ein. Diesen Denkansatz bezeichnet man als »win-win-Prinzip«. Die gute Nachricht ist, dass immer mehr Unternehmer und Manager ehrliches Marketing jenseits von pfiffigen Slogans und bunten Bildern für sich und ihre Unternehmen entdecken. Die Grundlage bildet das Paradigma der Kundenorientierung.

Jan Carlzon, der ehemalige CEO der skandinavischen Fluggesellschaft SAS, prägte den Begriff der „Moments of Truth“. Täglich hätte die von ihm geleitete Airline um die 50.000 Kundenkontakte. Jeder einzelne Kontakt sei ein Moment der Wahrheit. Immer wieder aufs Neue muss ein Unternehmen im Kontakt mit seinen Kunden einen Beitrag leisten, dass jeder einzelne Moment für die Kunden etwas Besonderes ist. Falls dies nicht gelingt, verschwindet man im Mittelmaß und verliert seine Kunden.

Kundenorientierung steigert den wirtschaftlichen Erfolg

 

Gerade für Unternehmen des Dienstleistungssektors ist die konsequente Ausrichtung aller Aktivitäten auf die Wünsche und Bedürfnisse vorhandener und potenzieller Kunden ein strategischer Erfolgsfaktor. Bis zur Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs in der Europäischen Union (geregelt in den Artikeln 56 bis 62 des Vertrages über die Arbeits- weise der Europäischen Union, AEUV) wurden unternehmerische Entscheidungen bei vielen Unternehmen, die in Dienstleistungsbranchen tätig sind, aus einer Innensicht getroffen. Dabei spielten Kunden eine eher untergeordnete Rolle. In der Assekuranz hatten in aller Regel Aktuare und Juristen die Schlagzahl bestimmt. Mit Inkrafttreten der Dienstleistungsfreiheit im europäischen Wirtschaftsraum im Jahr 1993 änderte sich dies spürbar. Der zunehmende Wettbewerb zwingt die Unternehmen zu einem Verhalten, bei dem Kunden in den Mittelpunkt des unternehmerischen Denkens und Handelns rücken (sollten). Wirft man einen Blick auf das so genannte „GAFAM-Phänomen“, so wird deutlich, dass zwischen Kundenorientierung und wirtschaftlichem Erfolg ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Der Begriff GAFAM bezeichnet die Unternehmen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft. Das älteste dieser Unternehmen - Microsoft - wurde vor gerade einmal 45 Jahren gegründet. Zusammen weisen diese Unternehmen allerdings einen Wert für die Marktkapitalisierung auf, die dem der Summe aller DAX30-Unternehmen um ein Mehrfaches übersteigt. Gerade Apple und Amazon weisen aufgrund ihrer konsequenten Fokussierung auf die „Customer Experience“, ein Begriff, der von Apple-Mitbegründer Steve Jobs geprägt wurde, stets einen hohen Net Promotor Score auf. Diese Kennzahl dient auch zahlreichen deutschen Dienstleistungsunternehmen als Indikator für Kundenzufriedenheit.

Ganze Management- und Forscher-Generationen beschäftigen sich mit der Frage, wie die Idee einer konsequenten Kundenorientierung im genetischen Code von Unternehmen verankert werden kann. Einer der wohl in der Praxis populärsten Denkansätze geht auf das 7-S-Modell von Thomas Peters und Robert Waterman zurück, das sie in ihrem Buch „Auf der Suche nach Spitzenleistungen“ im Jahre 1983 veröffentlichten. Wenngleich nicht explizit genannt, so schwingt die Idee der Kundenorientierung bei jedem „S-Erfolgsfaktor“ mit. Gibt man heute den Begriff „Kundenorientierung“ in eine Suchmaschine ein, so wird man mit einem Konvolut an Begriffen konfrontiert, die sich wunderbar für Hashtags eignen, allerdings keine sichtbaren Zusammenhänge unter dem Aspekt einer systemischen, ganzheitlichen Betrachtung erkennen lassen.

Wenn es speziell um Customer Centricity in der Versicherungswirtschaft geht, legt Bitcom Research eine interessante Entwicklung offen, die sich aus dem Übergang von der Generation der Baby Boomer (1960er Jahrgänge) zu den Generationen Y und Z ergibt. Demnach müssen Versicherungen künftig ihre Kompetenzen weiterentwickeln, wenn es darum geht, 

  • Schadenfälle rasch online abwickeln zu können,
  • Kundenbindungsprogramme aufzu- bauen,
  • Kundenbewertungen zuzulassen und zu veröffentlichen sowie
  • digitale Angebote (App) zu entwickeln (Bitcom Research: 2018).

 

Kundenorientierung systematisch gestalten: Die »5L«

Abb. 1: Die »5L« der Kundenorientierung

 

Aufgrund zahlreicher Diskussionen mit Praktikerinnen und Praktikern aus Versicherungs- und Energiewirtschaft, Gesprächen mit Fach- und Führungskräften, Studien sowie Bachelor- und Masterarbeiten konnte eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt werden. Das Ziel bestand darin, dem Phänomen der Kundenorientierung durch Identifikation von unternehmerischen Verhaltensmus- tern auf die Spur zu kommen. Dabei haben sich fünf Cluster herausgebildet, die der Verfasser, um eine Alliteration zu bemühen, als die „5L“ bezeichnet: Listen, Lead, Learn, Love, Live.

Listen

In Management-Trainings und Schulungen heißt es stets: „Listen to your Customer“. Doch wie kann man diese Forderung konkret in der Praxis umsetzen? Vor einigen Jahren warb ein deutscher PKW-Hersteller im Rahmen einer Kommunikationsoffensive mit dem Slogan „Wir haben verstanden“. Handelte es sich dabei lediglich um eine kreative Agenturleistung oder um eine tatsächlich neue Ausrichtung der Kundenstrategie des Unternehmens? Opel-Fahrer können diese Frage am besten beantworten. In den letzten Jahren wurden interessante Management-Tools entwickelt, die über die klassische demoskopische Marktforschung hinausgehen, da sie nicht allein Daten generieren, sondern auf erlebbare Interaktion mit Kunden setzen. Sie sind allesamt geeignet, Kunden aktiv in die Produktentwicklung und die Optimierung des Service-Design einzubinden. Dazu zählen beispielsweise das von Alexander Osterwalder und Yves Pigneur entwickelte Modell „Value Proposition Canvas“. Dabei hilft auch die Beschreibung von Buyer Personas erheblich, ein besseres Verständnis von Kunden zu entwickeln.

Schließlich bringt der Net Promotor Score zu Ausdruck, mit welcher Wahrscheinlichkeit Kunden ein Unternehmen bzw. dessen Produkte und Dienstleistungen weiterempfehlen würden. Unternehmen wie Netflix, Amazon, Tesla oder Starbucks weisen dabei sehr hohe Werte auf. Warum? Kunden sprechen davon, dass

  • die Leistungen dieser Unternehmen unkompliziert und zuverlässig sind,
  • sie einen „amazing“ Kundenservice
  • haben (existiert für Wort „amazing“ im Deutschen eine angemessene Übersetzung?),
  • die Produkte einzigartig und innovativ sind,
  • die Erfahrung von Kunden mit diesen Unternehmen und ihren Produkten „effortless“, also bequem und mühelos, sei.

 

Lead

Es heißt, der Fisch stinkt vom Kopf her. Wenn es darum geht, die Idee einer konsequenten Kundenorientierung allen Mitarbeitern eines Unternehmens zu vermitteln, sind Führungskräfte aufgerufen, dafür Verantwortung zu übernehmen. Diese Pflicht allein dem Marketing oder Kundenservice zu übertragen, wäre allzu einfach gedacht. Es handelt sich bei Kundenorientierung nicht allein um Leitsätze, die im Code of Conduct in Worten festgehalten sind, sondern um Ausdruck konkreten menschlichen Verhaltens, das täglich wiederkehrend an sämtlichen Touchpoints auf die Probe gestellt wird. Diese Erkenntnis muss sich in der Praxis vieler Unternehmen erst einmal durchsetzen. Eine rein sachliche Kommunikation, die Mitarbeiter allein auf der kognitiven Ebene anspricht, verfehlt ihr Ziel. Es muss gelingen, Mitarbeiter für diese Idee zu begeistern. Simon Sinek rät in seinem Bestseller „Start with Why“ Führungskräften, ihren Mitarbeitern in erster Linie zu verdeutlichen, warum sie etwas tun, worin Sinn und Zweck des Handelns bestehen. Erst dann ist zu klären, was zu erledigen ist und wie es gemacht wird. Die meisten Unternehmen, die scheitern, gehen in genau der entgegengesetzten Reihenfolge vor.

Eine beliebte Technik, Konzepte für eine bessere Kundenorientierung zu entwickeln, ist die Kopfstand-Methode. Die Idee besteht darin, Herausforderungen ins Gegenteil zu verkehren. Dabei sollte man sich das schlimmste Szenario ausmalen. Anstatt nach schnellen Lösungen zu suchen, wie man sich zu einem kundenorientierten Unternehmen entwickeln kann, sollte man sich die Frage stellen, was man tun muss, damit die Kunden das Unternehmen regelrecht hassen. Im zweiten Schritt kann man die Ergebnisse dies Brainstorming mit dem tatsächlichen Verhalten spiegeln feststellen, wie nah man diesem Negativszenario kommt. Je näher, desto größer die Notwendigkeit zu Veränderungen.

Learn

Lebenslanges Lernen entwickelt sich als grundlegendes Denkmodell in der Personalentwicklung. So wie Jan Carlzon einst sämtliche Mitarbeiter der Airline SAS schulen ließ, setzen die erfolgreichen Unternehmen auf die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter. Dabei geht es nicht allein um die Entwicklung von Fachkompetenzen wie Sprach- oder IT-Kenntnisse. Einen immer größeren Stellenwert nehmen soziale Kompetenzen, Kommunikation und Konfliktmanagement ein. Klassische Methoden sind Rollenspiele und Workshops. In zunehmendem Maße werden Mitarbeiter aber nicht allein in der ihnen zugedachten Rolle geschult. Vielmehr werden sie in die Entwicklung ganzer Geschäftsmodelle integriert, etwa durch aktives Mitwirken bei der Gestaltung eines Business Model Canvas. Dieses Vorgehen stärkt das Bewusstsein für das Geschäftsmodell. Darüber hinaus werden abteilungsspezifische Egoismen überwunden und ganzheitliches Denken gestärkt.

Love

Es mag eigenartig klingen: kann man seine Kunden lieben? Stefan Merath schreibt in seinem Buch, „Die Kunst, seine Kunden zu lieben“, ja! Damit stellt er die Frage in den Raum, ob es nicht sinnvoll sein könnte, anstelle einer voll- ständigen Marktabdeckung nur jene Kunden zu bedienen, mit denen man bestimmte Werte und Einstellungen teilt. Alle anderen Kunden, über die man sich auch schon mal ärgert, weil sie bei- spielsweise nur darauf aus sind, Preise zu drücken oder Zugeständnisse zu erwarten, werden aus dem Kundenportfolio entfernt. Was für große Dienstleistungskonzerne wie Banken, Versicherungen oder die Deutsche Bahn nicht ganz so einfach umzusetzen scheint, kann für kleine und mittlere Unternehmen eine Chance bieten. Schließlich macht es dem Unternehmer mehr Freude, mit Kunden zusammenzuarbeiten, die man mag als mit jenen, die sich regelmäßig als „Troublemaker“ erweisen.

Live

Kundenorientierung gehört nicht von oben oktroyiert. Sie ist Bestandteil einer gelebten Unternehmenskultur. Jeder Mitarbeiter eines Unternehmens sollte sich dessen bewusst sein - vom Vorstand bis zum Azubi. Eine interessante These, die allerdings einer weiteren empirischen Untersuchung bedarf, bevor sie als Fakt formuliert wird, lautet: Top- Manager auf Führungsebene sind sich der Bedeutung der Kundenorientierung bewusst. Ebenso handeln auch Mitarbei- ter auf den unteren Ebenen der Unternehmenshierarchie mit Kundenkontakten, wie etwa Karriererinnen im Supermarkt, Mitarbeiter im Aussendienst oder das Bordpersonal der Bahn, deutlich kundenorientierter als die Mitarbeiter auf mittlerer Hierarchieebene im Büro. Verwaltungsaufgaben mit mangelnden Kontaktpunkten lassen rasch die Bedeutung von Kunden vergessen. Gerade deshalb haben einige Unternehmen im Rahmen von Change-Initiativen Rituale eingeführt, bei denen auch schon einmal ein Manager für einen begrenzten Zeitraum Aufgaben mit Kundenkontakt übernimmt. Es spräche nichts dagegen, wenn eine Führungskraft z.B. aus dem Finanzressort für eine Woche Aufgaben in der Kundenbetreuung übernimmt.

 

»What can be measured can be managed« (Peter Drucker)

Der Kundenfokus-Score

 

Immer wieder das gleiche Problem mit der qualitativ orientierten Managementlehre: viele Worte, viele Ideen - aber wo sollte man konzeptionell ansetzen und wie kann man ein Unternehmen zu (noch mehr) Kundenorientierung weiterentwickeln? Jedes Unternehmen kann seinen Kundenfokus-Score ermitteln. Ausgangspunkt dieser Kennzahl sind die dargestellten „5L“. Sie bilden die Cluster, unter denen konkrete Einzelkriterien subsumiert und evaluiert werden.

Bsp.: Cluster „Listen“

Ausgangspunkt dieses Erfolgsfaktors ist folgende Frage: „Wie sehr versuchen wir, die Wünsche, Probleme und Bedürfnisse unserer Kunden zu verstehen?“ Um die Intensität in einem Prozentwert ermitteln und ausdrücken zu können, unterzieht sich das Unternehmen einer Selbstevaluierung. Diese kann auch - um ein höheres Maß an Objektivität sicherzustellen - durch Externe erfolgen. Beurteilungskriterien sind beispielsweise folgende Aussagen, die mit Werten zwischen Null und 100 beurteilt werden können:

  • Wir haben ein Beschwerdemanagement-System und analysieren syste- matisch Beschwerden, Feedback und Lob unserer Kunden.
  • Wir scannen Internet-Portale und analysieren Kommentare über unser Unternemen.
  • Wir analysieren systematisch die Inhalte von Inbound Calls.
  • ...
Abb. 2: Grundschema des Kundenfokus-Score
Abb. 3: Kundenfokus-Score - Cluster "Listen"
Abb. 4: Kundenfokus-Score, Beispiel einer Auswertung

Die auf diese Weise ermittelten Mittelwerte der fünf Cluster können so in einem Diagramm dargestellt werden. Der erzielbare Maximalwert beträgt 500. Besonders interessant wird das Tool, wenn sich die eigenen Werte mit jenen der Mitbewerber vergleichen lassen. Aber auch ohne diesen direkten Vergleich zu den Mitbewerbern liefert die Analyse Anhaltspunkte für konkrete Ansatzpunkte zur Verbesserung der Kundenorientierung. In einer Zeit zunehmender Wettbewerbsintensität können sich Unternehmen nicht darauf verlassen, dass die Loyalität der Kunden eine Selbstverständlichkeit darstellt. Wem es nicht gelingt, die Interaktion mit seinen Kunden auf allen Ebenen mit dem Ziel der Kundenzufriedenheit - oder besser: Kundenbegeisterung - zu gestalten - wird auf Dauer seine Marktposition verlieren. Oder, mit Johann Wolfgang von Goethe gesprochen:

„Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“


Quellen

 

Carlzon, J. (1992): Alles für den Kunden, Frankfurt: Campus

Merath, S. (2011): Die Kunst, seine Kunden zu lieben, Offenbach: Gabal

Osterwalder, A.; Pigneur, Y. (2015): Value Proposition Design, Frankfurt: Campus

Peters, T; Waterman, R. (1989): Auf der Suche nach Spitzenleistungen, Landsberg: moderne industrie

Sinek, S. (2011): Start with why, London: penguin

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