Kundenorientierung: So kann der Move gelingen

#Kundenorientierung #Marketing #Mindset

 

Wie häufig wird man als Marketing-Professor von Praktikern gefragt, ob es eine Methode gebe, die man anwenden könne, um das Thema Kundenorientierung stärker ins Bewusstsein von Mitarbeitern zu rücken. Gerade Marketing- und Vertriebs-Profis an der Kundenfront müssen oft Tiefschläge einstecken, wenn all ihre Bemühungen um mehr Kundennähe von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmensbereichen zunichte gemacht werden, wenn es darum geht, Kundenorientierung im Alltag zu leben. Die Antwort auf die Frage lautet: ja - es gibt sogar eine ganze Reihe sehr gut anwendbarer Methoden. Der wohl einfachste "Trick" besteht darin, die Sichtweise der Kunden einzunehmen. Wie das mit einer einfachen praktischen Übung gelingen kann, zeigt die Anekdote von zwei Geschäftsleuten aus Shanghai: On Li Me und You-You!

Foto: Verfasser

Was hat das Thema mit Shanghai zu tun?

 

Wer hat sie nicht schon einmal gesehen - die faszinierende Skyline vom Pudong-District in Shanghai?! Sei es in Filmen, Reportagen, auf Fotos oder vielleicht sogar während einer Reise in diese unglaubliche Metropole. Man steht auf der Flanierpromenade am Bund und blickt über den Huangpu River auf sein östliches Ufer. Von den vielen modernen Wolkenkratzern, die mit Einbruch der Dunkelheit in bunten Farben beleuchtet werden, werden auf überdimensionalen LED Displays Werbebotschaften verbreitet. In diesem Bezirk befinden sich einige der nobelsten und modernsten Hotels Chinas - vielleicht sogar Asiens. In einem dieser Luxushotels befindet sich auf der 87sten Etage eine Bar, von der aus man die wohl beste Aussicht auf Shanghai hat, die man sich vorstellen kann. Es ist kein Geheimnis, dass dies der Treffpunkt von internationalen Geschäftsleuten, Expats, Unternehmern und wohlhabenden Chinesen ist, die im Lounge-Ambiente bei einem Cocktail oder einem Glas Wein über ihre Projekte und Pläne sprechen.

 

    On Li Me und You You

    Unfreiwillig wurde ich Zeuge eines Gesprächs, das drei Personen - offenbar ein Amerikaner und eine Amerikanerin sowie ein smart aussehender Chinese - am Nachbartisch miteinander führten. Scheinbar ging es den Amerikanern darum, mit einen möglichen Lieferanten ins Geschäft zu kommen. Es war klar: der Chinese wollte den Deal! Er stellte sich den beiden Einkäufern vor als „On Li Me“. Nach etwas Small Talk kamen die Einkäufer zum Punkt und fragten On Li Me, ob er - abgesehen vom Preis - drei Gründe nennen könne, sein Unternehmen mit der Lieferung zu beauftragen. „Well“, begann er in bestem Englisch, „unsere Produkte werden mit größter Sorgfalt hergestellt. Wir setzen qualitativ hochwertige Materialien ein und wir können jederzeit Sonderschichten fahren.“ Man ließ das Gespräch nach einer Weile freundlich ausklingen, verabschiede sich höflich und versprach, miteinander auf jeden Fall in Kontakt zu bleiben.

    Nach etwa einer dreiviertel Stunde gesellte sich ein anderer Chinese zu den Einkäufern. Höflich stellte er sich in ebenfalls einwandfreiem Englisch vor. „My name is You You“, hörte ich ihn sagen. Nein, ich hatte nicht gelauscht! Aber bei präsenter Lounge-Musik und der von den in Gesprächen vertieften Gäste erzeugten Geräuschkulisse ließ es sich nicht vermeiden, das eine oder andere Wort aufzuschnappen. Offenbar war es ein Mitbewerber von On Li Me, der sich ebenfalls um den Auftrag bemühte. Auch er wurde schließlich nach den drei Gründen gefragt, die sein Unternehmen in besonderer Weise auszeichneten. „Nun“, begann er nach kurzem Überlegen, „die Sorgfalt, mit der wir unsere Produkte herstellen, garantiert unseren Kunden, also hoffentlich bald auch Ihnen, dass diese bei der Weiterverarbeitung keine Produktionsausfälle zu befürchten haben. Da wir beste Materialien bei der Produktion einsetzen, müssen sich unsere Kunden wiederum keine Gedanken darüber machen, ob bei deren Kunden Unzufriedenheit oder gar gesundheitliche Risiken aufgrund mangelhafter Rohstoffqualität entstehen könnten. Und schließlich: sollten Sie aufgrund steigender Nachfrage an einer Erhöhung der Liefermenge interessiert sein, können wir dies rasch und flexibel gewährleisten, da wir im Schichtbetrieb fertigen. Lieferengpässe, die Ihre betrieblichen Abläufe gefährden könnten, gibt es bei uns nicht.“

     

    Die Moral der Anekdote

     

    Stellen Sie sich folgende Rahmenbedingungen vor: die Preise der beiden Wettbewerber - On Li Me und You You - befänden sich auf identischem Niveau. Die Produktqualität sei vergleichbar. Beide verfügen über identische Zahlungsmodalitäten und Lieferbedingungen (Terms), und die technische Ausstattung der Betriebe würde sich auch nicht voneinander unterscheiden. Wer würde den Auftrag erhalten: On Li Me oder You You?Ob sich das Szenario tatsächlich so abgespielt hat oder dies nur eine frei erfundene Geschichte ist, bleibt mein Geheimnis. Aber darum geht es hier auch nicht. Es geht vielmehr darum, das Phänomen Kundenorientierung zu verstehen. Customer Centricity mausert sich immer mehr zu einem Buzzword, das aufgrund seiner Relevanz nicht in ein "Bullshit-Bingo" münden darf. Es geht nicht darum, was Du hast oder kannst. Es geht darum, welchen Nutzen Dein Kunde davon hat, wenn er mit Deinem Unternehmen zusammenarbeitet. Sei es bei der Lieferung von Rohstoffen, Maschinen oder Dienstleistungen.

     

    Ist Ihr Unternehmen On Li Me oder You You?

     

    Nun sind Sie dran... Schauen Sie sich gewissenhaft Ihre Unternehmens-Homepage an. Wie tritt Ihr Unternehmen auf Messen und Ausstellungen auf? Wie formulieren Sie Ihre Texte in Broschüren, in Werbeanzeigen oder Pressetexten? Mit welchen Argumenten arbeitet Ihr Vertriebsteam im Kundenkontakt? Sind Sie in Sozialen Medien aktiv? Welches sind Ihre Botschaften? Und… und… und…

    Erstellen Sie ein T-Konto (kennt man noch aus der Buchführung, Soll und Haben) und zählen Sie, wie häufig Sie als On Li Me und wie häufig Sie als You You auftreten. Indikatoren: On Li Me-Formulierungen beginnen oft mit den Worten "ich, mir, meine, mich". Aus der Erfahrung weiß ich schon jetzt, auf welcher Seite des Kontos sich die Zählstriche bei den meisten häufen. Hoffentlich sind Sie anders! Viel Spaß!

    Foto: Verfasser

    Disclaimer für Political Correctness: 

    • Selbstverständlich sind die Namen frei erfunden. Aber mit den Namen Wang und Zhang kann man in diesem Kontext leider nicht arbeiten. 
    • China ist ein großartiges Land, in das es sich zu reisen lohnt. Freundliche Menschen, eine großartige Kultur, gutes Essen und vieles mehr.
    • Ob die Einkäufer Amerikaner sind oder welche Nationalität sie auch immer gehabt haben mögen ist von untergeordneter Bedeutung.
    • Die Einkäuferin befand sich auf Augenhöhe mit ihrem männlichen Kollegen.
    • Die Bar im 87. Stock gibt es wirklich, und ein Besuch lohnt sich!
    • Nochmals: NEIN! Ich habe nicht gelauscht. Aber Sie kennen bestimmt auch diese Leute, bei denen es unvermeidbar ist, ihre Telefongespräche im ICE mitzuhören :-)